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Wird die Biomechanik zu wenig vermittelt?

„Die meisten Pferde sind imstande, alle Lektionen zu lernen“

Biomechanik: Ein kryptischer Begriff, den viele Reiter in der hintersten Schublade ihres Gedächtnisses abgelegt haben. Dabei spielt sie bei jedem Ritt eine bedeutende Rolle. Pferdewirt Jannik Bode hat erforscht, ob das Thema im Unterricht zu kurz kommt.

Dorothee Schneider und Showtime in der Traversale. Eine Lektion, die nur gelingt, wenn der Reiter die Biomechanik des Pferdes versteht und es entsprechend trainiert.

Münster - Jannik Bode ist Pferdewirt in klassischer Reitausbildung besitzt die Trainer A-Lizenz, Schwerpunkt Sitz und Gleichgewicht und studiert im Masterstudiengang Agrarwirtschaft. In seiner Bachelorarbeit hat er sich vor einigen Jahren mit dem Thema „Biomechanik in der Reitlehrer-Ausbildung“ befasst. Im Interview mit Reiter Revue International spricht er über das, was im und unter dem Sattel eigentlich geschieht.

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Herr Bode, warum gerade das Thema „Biomechanik“?

Ich habe gemerkt, dass ich in dem Unterricht, den ich bekommen habe, Probleme hatte, die Biomechanik von Pferd und Reiter wirklich nachzuvollziehen. In meiner Ausbildung hieß es immer: Du lernst vom Pferd. Ich musste unheimlich viel Gefühl beim Reiten der jungen Pferde entwickeln. Das hat mich natürlich weitergebracht, aber als ich mich dann in der Unterrichtserteilung in Richtung Sitz und Gleichgewicht weiterentwickelt habe, ist mir erst bewusst geworden, wie viel im Sattel passiert. In den Trainer-C- und Trainer-B-Kursen, die ich gemacht habe, fehlte mir die intensive Wissensvermittlung. Da wurde alles zu oberflächlich angesprochen.

Wie sind Sie vorgegangen?

Die Ausgangsfrage war, ob es auch anderen Ausbildern so geht. Welchen Stellenwert hat dieses Thema in der breiten Masse der Trainer? Fehlt das Verständnis für eine Grundlage, die eigentlich dazu führen würde, dass den Schülern das Reiten leichter fällt und das Pferd zufriedener ist?

Und was war Ihr Ergebnis?

Der Literaturteil hat ergeben, dass die Biomechanik für Reiter und Pferd in der theoretischen Reitlehre gleichermaßen berücksichtigt wird. Hier haben beide den gleichen Stellenwert. Die Umfrage unter Reitlehrern zeigt aber, dass viele die Biomechanik des Reiters als viel weniger wichtig erachten als die des Pferdes. Es wurde kollektiv gesagt, dass in der Ausbildung zwar generell Wissen vermittelt würde, die Biomechanik aber kein separater Lehrinhalt sei. Das Fazit ist, dass auch die Trainer ihren Schülern zu wenig über die Biomechanik vermitteln.

Das Verständnis der Biomechanik setzt eine Definition voraus. Was steckt hinter dem Begriff?

Die Biomechanik beschreibt die Bewegungsabläufe im biologischen System, sowie die Funktion von verschiedenen Bewegungsapparaten. Gemeint ist also das Zusammenspiel von allem, inklusive der physischen Kräfte, die auf die Körper einwirken. Der Bewegungsapparat in sich ist geschlossen. Habe ich aber eine kleine Unstimmigkeit darin, kann die Kraft nicht mehr so fließen, wie sie müsste. So kommt es zur Überbelastung. Ich muss also die Kräfte in dem System richtig lenken, um sie fließen lassen zu können.

Kennt der durchschnittliche Amateurreiter die Biomechanik von sich und seinem Pferd?

Ich glaube, die meisten Reiter haben deutlichen Nachholbedarf. Wenn ich mir auf einem ländlichen Turnier eine A-Dressur angucke, bin ich mir sicher, dass manche Reiter so nicht reiten würden, wenn sie mehr Verständnis für die Biomechanik hätten. Sie würden die Basis viel gezielter legen. Beispielsweise würde niemand mit einem Pferd, das nicht reell an den Hilfen steht und von selbst kaum vorwärtsgehen will, eine L-Dressur reiten. Denn bevor das Pferd nicht losgelassen über den Rücken geht, kann ich ja eigentlich diese Lektionen nicht abfragen.

Warum haben denn viele Reiter so wenig Verständnis dafür?

Ich glaube, der falsche Denkansatz spielt dabei eine Rolle. Für viele gilt, dass der Kopf des Pferdes in eine bestimmte Position gehört, was aber eigentlich nebensächlich ist, wenn der Körper des Pferdes grundsätzlich funktionieren kann. Die Kopf-Hals-Haltung erschließt sich ja nur aus dem korrekten Bewegungsablauf unter dem Sattel. Sie ist das Ziel und nicht der Weg.

Und das heißt?

Ich muss jedes Pferd individuell betrachten, die Winkel des Körpers im Blick haben, gesundheitliche Schwachstellen erkennen und ihnen gezielt entgegenwirken. Aber nicht nur das: Ich muss auch mich selbst als Reiter genau analysieren. Viele Reiter verhindern durch ihren Sitz, dass ein Pferd sich seinem Körper entsprechend bewegen kann. Das Resultat daraus ist, dass es gewisse Lektionen nicht ausführen kann oder sogar schon Probleme hat, sich generell unter dem Reiter zu bewegen. Häufig sehe ich, dass Pferde nicht von selbst vorwärtsgehen wollen, die Sporen und die Gerte immer länger werden und die Reiter verzweifeln. Dabei beginnt das Problem schon dabei, dass der Reiter in Oberschenkel und Knie klemmt und dadurch die Bewegung seiner Hüfte blockiert. Wenn ich dieses Problem behebe, wird das Pferd meistens schon von selbst gehfreudiger. Die Erkenntnis, dass der eigene Sitz einen so großen Einfluss hat, ist dabei unglaublich wichtig.

Konzentrieren sich viele Reiter viel zu sehr auf den perfekten, ruhigen Sitz?

Ja. Die Funktion des Sitzes ist das entscheidende und nicht die Form. Viele Reiter achten viel zu sehr darauf, gerade und ruhig zu sitzen und werden dadurch nur steif und verkrampfen sich. Bei vielen ist der Sattel schon so angelegt, dass sie so unbeweglich wie möglich sind. Die Reiter müssten viel mehr sensibilisiert werden, was sie mit ihrem Sitz alles bewirken können. Beispielsweise ist falsches Treiben ein entscheidender Aspekt, der oftmals für Störungen sorgt. Viele Reiter ziehen dabei den Absatz hoch. Man treibt aber eigentlich aus dem locker hängenden Unterschenkel. Die Muskelkontraktion findet im hinteren Oberschenkelmuskel statt. Verstehen die Reiter diesen Zusammenhang, ist es für sie viel leichter, sich zu kontrollieren und zu korrigieren.

Sitzen die Reiter denn heute tatsächlich steifer als früher?

Die Menschen heute sind übermobil an den falschen Stellen. Viele sind im Brustbereich sehr mobil, aber im Becken deutlich steifer. Das ist aber korrigierbar. Man muss die Mobilität eben stärken. Denn wenn ich im Becken blockiere, werde ich die Bewegung des Pferdes aus dem Hinterbein über den Pferderücken nicht weiterleiten können. Die Gewichtshilfe sollte eigentlich die vorherrschende Hilfe sein. Das ist vielen auch nicht bewusst. Ich kann sie aber durch ein festes Becken oder einen klemmenden Schenkel schnell zunichtemachen. Grundsätzlich ist es besser, wenn ein Mensch zu locker ist, als zu starr. Ein Reiter mit wenig Körperspannung stört das Pferd schon mal nicht.

Wird denn der Reiter durch Korrekturen wie „Halt die Hände ruhiger“ eher unbeweglicher?

Es wird zu viel in Spannung geritten und krampfhaft eine Position gehalten. Wenn das Pferd in die Hand hineinzieht, hat man eigentlich automatisch eine korrekte Zügelführung. Es ist ganz wichtig, das zu verstehen. Denn dass das Pferd federnd in die Hand hineinzieht, bedeutet eben auch nicht, keine Anlehnung zu haben. Das ist in der Ausbildung ein ganz wichtiger Punkt, den auch das Pferd erst lernen muss. Wenn der Reiter mit der Hand rückwärts wirkt, links und rechts riegelt, wird er das Pferd nur blockieren und es wird nie reell die Anlehnung suchen. Das hat auch Auswirkungen auf den Reiter. Denn wenn er locker in der Bewegung mitschwingt und dem Pferd die Möglichkeit gibt, die eigene Form zu finden, entwickelt sich der richtige Sitz des Reiters entsprechend seiner Körperbeschaffenheit ebenso von alleine.

Was gehört denn noch zu den größten Missverständnissen in Bezug auf die Biomechanik?

Ich glaube, dass „vorwärts-abwärts“ ein großer Problempunkt ist. Viele verstehen die Dehnungshaltung falsch und lassen ihre Pferde komplett auseinanderfallen. Das Problem ist, dass Pferd und Reiter nicht ausbalanciert sind. Eigentlich sollte die Dehnung nach vorne ans Gebiss heran das Entscheidende sein. Und nicht die Dehnung nach unten.

Haben die Reiter eine Holschuld bezüglich der Reitlehre oder ist es die Bringschuld der Ausbilder?

Beides. Denn eigentlich wollen wir ja alle das Gleiche: gesunde, zufriedene Pferde. Ich bin davon überzeugt, dass viele Reiter die Richtlinien nie gelesen haben und die Zusammenhänge deshalb im Detail nicht verstehen. In vielen Fällen habe ich das Gefühl, die Reiter reiten L, M oder S, weil die Lektionen funktionieren, aber der Rest dazwischen passt noch nicht. Es gibt viele Pferde, die spulen die Lektionen mechanisch ab. Sie verschleißen dabei aber, weil sie ihren Körper nicht richtig benutzen. Und damit sind wir wieder bei der Biomechanik. Warum haben wir so viele Fesselträgerprobleme und, und, und? Ich glaube, dass da die kaum oder missverstandene Biomechanik eine große Rolle spielt.

Aber wie vermittelt man das Wissen um die Biomechanik so, dass die Reiter ihre Zusammenhänge im Sattel erfühlen können?

Die biomechanischen Zusammenhänge zu erläutern, ist das eine. Dies auf das Gefühl im Sattel zu übertragen, ist unheimlich schwierig. Umso wichtiger ist es, dass die Trainer die Hintergründe selbst perfekt beherrschen und vermitteln können, um sie in der Theorie schon mal deutlich zu machen. Man muss als Trainer aber auch lernen, den Menschen als Lerntyp einzuschätzen. Es gibt Schüler, die am besten über Bilder und Vergleiche lernen, andere müssen es einmal auf Lehrpferden fühlen. Gefühl zu beschreiben, erfordert unglaublich viel Erfahrung.

Die Theorie kommt aber häufig schon zu kurz?

Wenn man wirklich ein fundiertes Vorwissen hat, kann man vieles leichter erarbeiten. Das Verständnis, insbesondere für die Biomechanik, macht die Fehlersuche einfacher, wenn etwas nicht funktioniert. Denn vieles hat den Ursprung in Unstimmigkeiten in den biomechanischen Abläufen bei Pferd oder Reiter. Ist beispielsweise das Hinterbein des Pferdes noch nicht beweglich genug oder gibt es eine negative Spannung, muss genau daran gearbeitet werden. Mit dem richtigen Training, das die Biomechanik dem Körper entsprechend einbezieht, kann man viel erarbeiten, was man sonst mit „das Pferd hat zu wenig Talent“ abgehakt hätte.

Sind die Hilfen vieler Reiter zu grobmotorisch?

Das würde ich so nicht sagen. Ich glaube, viele Reiter reagieren zu ‚grobmotorisch‘, weil sie nicht wissen, wie fein sie einwirken können. Sie müssen erst einmal ein Gefühl dafür bekommen. Viele sagen: Viel hilft viel! Da muss ein Umdenken stattfinden. Man sollte eigentlich versuchen, mit möglichst wenig Aufwand dem Pferd zu vermitteln, was es tun soll. Dann kann man viel gezielter arbeiten. Zum Beispiel ist Schenkelweichen bei vielen Reitern anfangs ein Hauen, Stechen und Ziehen, nur damit irgendein Seitwärtstritt funktioniert. Das liegt aber daran, dass sie sich nicht darüber im Klaren sind, wie sie es ihrem Pferd feiner verständlich machen können. Da sind die Ausbilder in der Pflicht.

Ab welchem Ausbildungsstand wird denn Körperspannung relevant?

Die Frage ist gut. Ich würde aber das Wort Spannung gerne generell in Frage stellen. Denn wenn ich sage: „Spann‘ die Rückenmuskulatur an“, verspannt sich der Reiter meistens direkt. Wenn die Funktion des Sitzes gegeben ist, hat der Reiter von sich aus eine gewisse positive Körperspannung. Sobald er die Bewegung des Pferdes beeinflussen möchte, was erst ab der Klasse L oder M passiert, wenn die Versammlung dazu kommt, muss die absolute Losgelassenheit und Balance im Sitz vorhanden sein. Das ist die Skala der Ausbildung des Reiters.

Springreiter sagen ja gerne, dass sie keine Lust auf langweiliges Dressurreiten haben und Reiter, die vor allen Dingen am Wochenende ins Gelände wollen, vernachlässigen das Training ebenfalls gerne. Aber für sie gilt die Bedeutung der Biomechanik ja nicht weniger.Wir haben in gewisser Weise das Problem, dass Dressurreiter nur auf Lektionen schauen, Springreiter nur auf die Hindernisse und Reiter, die gerne ins Gelände gehen, sich sicher sind, dass der Ausritt am langen Zügel am pferdefreundlichsten ist. Alle haben aber gemeinsam, dass sie ihr Pferd dafür gleichermaßen gymnastizieren müssen. Ich muss für alles schlicht die Muskulatur, die Bänder, Sehnen und Gelenke so gut trainieren, dass sie dieser Herausforderung gewachsen sind. Ich glaube, dass sich viele Reiter, die der Meinung sind, dass ihr Pferd nicht über das Talent verfügt, eine Klasse höher zu gehen, wundern würden, was alles möglich wäre, wenn sie die Biomechanik ihres Pferdes im Training berücksichtigen würden.

Das Argument „Bei der A-Dressur ist für das Pferd Schluss“ lassen Sie also nicht gelten?

Ich glaube, dass die meisten Pferde imstande sind, alle Lektionen zu lernen. In ihrem Rahmen. Natürlich kann ein Dressurpferd mit dem entsprechend passenden Körperbau eine andere Piaffe zeigen als ein kleiner Tinker, aber in seinem Rahmen kann auch der Tinker lernen, eine reelle Piaffe zu machen. Soweit, wie er biomechanisch dazu im Stande ist. Der Aufbau der Lektionen dient ja eigentlich nur der Gesunderhaltung der Pferde.

Heutzutage eifern viele Reiter Idolen aus der Freiheitsdressur nach und auch in Filmen wird gerne dargestellt, dass Reiten ohne Sattel und Trense am pferdefreundlichsten ist. Steht das im Kontrast zur klassischen Reiterei und damit auch zur Berücksichtigung der Biomechanik?

Ich glaube, dass man durchaus so frei reiten kann, wenn man die Grundlage perfekt beherrscht. Das Pferd muss aber in der Ausbildung erst einmal lernen, wie es seinen Körper unter dem Reiter einsetzen kann, ohne gesundheitlichen Schaden zu nehmen. Ein Pferd ist eigentlich nicht zum Reiten geboren. Aber mit der klassischen Ausbildung, basierend auf dem Wissen um die Biomechanik des Pferdes und des Reiters, können wir es so trainieren, dass es einen Reiter problemlos tragen kann. Stimmt diese Grundlage, die Muskulatur und die Verständigung zwischen Pferd und Reiter, kann dies auch ohne Sattel und Trense sein. Aber auch Showreiterin Alizée Froment, die dies in beeindruckender Form zeigt, hat ihre Pferde erst reell mit Sattel und Trense ausgebildet, bevor sie sie so reiten konnte. Solange die Basis nicht korrekt gelegt ist, provoziere ich Verschleiß, wenn ich reite – egal, ob mit oder ohne Sattel und Trense. Dass ich bei einem gut gerittenen Pferd die Anlehnung temporär aufgeben kann, weil es trotzdem den Spannungsbogen hält, ist schlicht das Ergebnis guter Arbeit.

Vielen Dank für das Gespräch.