Zum Inhalt springen

Drücken Sie Öffnen / Eingabe / Enter / Return um die Suche zu starten

In der Kritik: Freie Gebisswahl im internationalen Springsport

Gliederketten, Schnüre, Metallstangen, Hebel, Riemen sind in unterschiedlichen Kombinationen regelmäßig im internationalen Springsport zu sehen. Warum das so sein darf, fragen sich nicht nur Laien. Eine Suche nach Erklärungen.

Ein Symbolfoto für mögliche Zäumungen. Entstanden ist das Bild 2023 bei einem Nationenpreis.

„Das Pferdemaul ist ein Heiligtum. Es ist eine der schmerzempfindlichsten Körperregionen des Pferdes. Was an Gebissen und Gebisskonstruktionen erlaubt ist, finde ich daher schrecklich“, sagt Reitmeister Martin Plewa sehr klar. Der ehemalige Bundestrainer der Vielseitigkeitsreiter beobachtet mit Sorge, welche Gebisskombinationen teilweise im gehobenen Springsport eingesetzt werden.

Zum besseren Verständnis ein Blick auf die erlaubten Gebisse: Ab der Klasse M** ist die Zäumung frei wählbar. Ein Satz schränkt die Wahl im Ausrüstungskatalog der Leistungsprüfungsordnung (LPO) ein: „Die Ausrüstung der Pferde muss den Regeln der Reitlehre (Richtlinien für Reiten und Fahren, Band 1) und den Grundsätzen der Unfallverhütung und des Tierschutzes entsprechen.“ Ein Satz, der viel Interpretationsspielraum lässt, auch auf dem Turnier.

„Für die Richter und Stewards ist es nicht einfach zu beurteilen, was teils am Kopf verschnallt ist“, sagt Plewa. Denn: Wie wirken mit Schnüren zusammengebundene Riemen? Wie fühlt es sich für das Pferd an, mit Druck auf Nasenrücken, Unterkiefer und Maul geritten zu werden? „Gäbe es klarere Verbote, wäre es viel leichter dem Tierschutz gerecht zu werden“, meint Martin Plewa. Der Reitmeister ist überzeugt: „Wenn ein Pferd so ein scharfes Gebiss benötigt, um auf dem Turnier überhaupt sicher zu gehen, ist es nicht turnierreif.“ Für ihn sind scharfe Gebisse eine Abkürzung in der Ausbildung.

Heft verpasst? Kein Problem. Bei uns im Online-Shop finden Sie alle Einzelausgaben der Reiter Revue als Print-Magazin und E-Paper.

Nur noch Wassertrense

Julia Mestern, frühere Deutsche Meisterin in der Vielseitigkeit und Pferdewirtschaftsmeisterin, stimmt ihm zu. Beide wünschen sich Turniere, auf denen Pferde nur mit normaler Trense starten dürfen. „Für ein gut ausgebildetes, rittiges Pferd braucht man kein scharfes Gebiss“, sagt die Ausbilderin ganz klar. Für sie ist Ausbildung das eine Schlagwort und Zeit das andere. „Wenn ich gut einwirke, brauche ich nicht mehr Druck. Für mich ist klar, wenn ich mein Pferd nicht mit einer normalen Trense händeln kann, ist es allerhöchste Zeit einen oder mehrere Schritte zurückzugehen“, betont Julia Mestern.

Anderer Meinung ist Holger Wulschner, Springreiter und Aktivensprecher aller Reiter. Damit hat er eine Stimme im Vorstand des Deutschen Olympiade-Komitees für Reiterei (DOKR) im Bereich Sport. Da er auch Mitglied im Präsidium der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) ist, kann er die Interessen der Aktiven in den beiden höchsten Gremien von FN und DOKR einbringen. Auch er reite seine Pferde am liebsten auf einer einfach oder doppelt gebrochenen Trense, betont er. Ganz klassisch. Doch für ihn gibt es ein großes Aber: „Ich habe einen Hengst, den ich sechs- und siebenjährig bereits geritten habe. Ein tolles Pferd. Dann wurde er verkauft und hat wohl einiges erlebt. Ein Jahr später kam er zurück und ich kam im Parcours mit meinen Hilfen nicht mehr durch, er hat gebockt. Wir haben alles versucht. Vom Tierarzt bis zur Pferdeflüsterin. Alles ohne Ergebnis. Ich war nur Beifahrer. Dann haben wir auf ein Hackamore und ein kombiniertes Reithalfter gewechselt. Seitdem ist er auf dem Turnier wieder reitbar“, schildert der erfahrene Ausbilder einen besonderen Fall. Das Pferd hat bei ihm eine zweite Chance bekommen.

Macht der Reiter den Unterschied?

Ist es bei dieser Vorgeschichte vertretbar auf besondere Zäumungen zurückzugreifen? „Nein“, sagt Plewa. „Wenn ein Pferd zeigt, dass es mit der Situation überfordert ist, gehört es nicht aufs Turnier.“

Holger Wulschner findet, dass er seinem Pferd mit dem Gebiss geholfen habe. „Er hatte nie eine wunde Stelle. Ich finde es vollkommen richtig, dass Blut am Maul geahndet wird. Da gibt es keine Diskussion“, betont Holger Wulschner. Für ihn ist daher auch wichtig, dass solche Gebisse und Gebisskombinationen in erfahrene und feine Reiterhände gehören. Auch Springreiter Richard Vogel sagt: „Es kommt auf die Hände an, die die Zügel führen. Kleinste Änderungen machen eine große Wirkung.“ Weil Pferde feinfühlig sind und auch weil die Kräfte, die durch die längeren Hebel am Hackamore oder sogar am Drei-Ring-Gebiss auf den empfindlichen Pferdekopf wirken können, teils immens sind.

Was gibt es Neues von der Reiter Revue? In unserem Newsletter halten wir Sie auf dem Laufenden. Auch über die Kampagne #doitride. Jetzt anmelden!

An dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein, wie fein die Einwirkung wirklich in jeder Sekunde des Parcours ist, wenn es um enge Wendungen, 1,60 Meter hohe Hindernisse und die schnellste Zeit geht. „Im Eifer des Gefechts wirkt ein Reiter schneller mal schärfer ein, als ihm lieb ist“, meint Martin Plewa. Für das Pferd kann das schmerzhaft sein, denn das Gebiss wirkt unmittelbar auf die Zunge und die Laden.

Studie beweist: Maulverletzungen auch bei Springpferden

Tierarzt Dr. Martin Swoboda veröffentlichte 2021 seine Doktorarbeit zum Thema: Der Einfluss sportlicher Nutzung auf die Kopf und Maulgesundheit bei Reitpferden. In seiner Dissertation an der Tierärztlichen Hochschule Hannover untersuchte er 748 Pferde, alle wurden national im Turniersport eingesetzt. Die meisten hochgradigen Befunde im Kopf- und Maulbereich fand er bei Springpferden vor, die in der Klasse S* und höher eingesetzt werden. Er schreibt in seiner Arbeit: „Oft wird irrtümlicherweise angenommen, Pferde mit schmerzhaften Zuständen der Maulhöhle würden besonders sensibel auf Zügeleinwirkung reagieren. In Wahrheit ist genau das Gegenteil der Fall. Denn Pferde neigen dazu, „in den Schmerz zu laufen“. Greift der Reiter nun zu einem schärferen Gebiss, um sich bei dem vermeintlich unsensiblen Pferd besser durchzusetzen, beginnt ein Teufelskreis.“ Druck erzeugt Gegendruck.

Zur Veranschaulichung: 13,9 Prozent der von Dr. Martin Swoboda untersuchten Pferde hätten seiner Einschätzung nach aufgrund der Verletzungen im Maulbereich keine Starterlaubnis bekommen dürfen. Wie heißt es gleich in der LPO? „Die Ausrüstung der Pferde muss den Regeln der Reitlehre (Richtlinien für Reiten und Fahren) und den Grundsätzen der Unfallverhütung und des Tierschutzes entsprechen.“

Der glückliche Athlet?

Der Weltreiterverband FEI schreibt sich das Wohl des Pferdes ganz oben auf die Fahne. Und das ist auch gut so. Doch wie passt das damit zusammen, dass Reiter im internationalen Springsport so viele Wahlmöglichkeiten haben? Können diese wirklich alle im Sinne der Pferde sein? Sehen wir im internationalen Sport nur glückliche vierbeinige Athleten? „Nein“, sagt Martin Plewa. Der Weltreiterverband hat in diesem Punkt seines Erachtens versagt. „Die Lobby der Springreiter ist zu groß“, meint er.

Doch es gäbe auch sehr, sehr gute Gegenbeispiele. Marcus Ehning ist eines. In diesem Punkt sind sich alle hier zitierten Experten einig. Und wie sieht die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) als Dachverband die Gebisswahl? Thies Kaspareit, Leiter der Abteilung Ausbildung der FN, sagt: „Im gehobenen Springsport kommt es auf die Feinabstimmung an. Manche Reiter setzen da auf ein entsprechendes Gebiss. Wer internationale Prüfungen reiten möchte, möchte in den Qualifikationsprüfungen die von der FEI zugelassene Ausrüstung nutzen. Das ist verständlich. Wir müssen mit anderen Nationen mithalten können.“ Und das geht nur mit entsprechender Zäumung? Warum?

Auf der anderen Seite sieht Kaspareit, dass der Sport sich an seinen Bildern messen lassen muss. Fünf Riemen, davon zwei Ketten, die an der Unterseite des Pferdekopfes verschnallt sind – wie ist zu erklären, dass diese bei einem Pferd auf einem Championat nötig sind? „Wir führen die Debatte über die Social License des Reitsports. Daher müssen wir gemeinsam mit der FEI an Regeln arbeiten“, sagt Thies Kaspareit. Konkrete Vorschläge hat die FN zum aktuellen Zeitpunkt (Oktober 2023) aber noch nicht eingereicht. „Die traditionellen Reitsportnationen sind weltweit in der Minderheit. Es wird eine Herausforderung, alle zu überzeugen“, meint Kaspareit. „Wenn der Reitsport sich nicht von innen heraus zum Wohl des Pferdes reglementiert, überlebt er nicht“, meint Martin Plewa. Seines Erachtens ist es höchste Zeit ein Zeichen zu setzen, nicht nur zu reden.

Sich um nichts weiter kümmern müssen, Geld sparen und dafür auch noch eine tolle Prämie erhalten? Das geht mit unserem Jahres-Abo als Digital- oder Print-Angebot.

Ausbildung vor Ausrüstung

Thies Kaspareit, Julia Mestern, Martin Plewa, Richard Vogel und Holger Wulschner sind sich in einem Punkt einig: Die gute Ausbildung ist das Entscheidende. „Da müssen wir ansetzen. Gutes Reiten muss belohnt werden“, finden alle. Mit einem Unterschied: Während Martin Plewa bereits an der Basis ansetzen möchte und dort am liebsten Drei-Ring-Gebisse und Pelhalm untersagen würde, sieht die FN im Bereich bis M*-Springen weniger Handlungsbedarf. Dort sei die Ausrüstung durch die LPO
bereits sehr gut reguliert. Die Frage, ob ein Pelham in Jungpferdeprüfung bereits erlaubt werden sollte, stellt sich auch Julia Mestern. Ihr Plädoyer: Den Pferden mehr Zeit geben. Und: „Im Zweifel reiten wir keine 1,60 Meter Springen mehr. Vielmehr sollten wir schauen, was das Pferd gut und gerne leisten kann. Es soll Spaß haben. Reiten soll harmonisch aussehen. Da
gehört die richtige Ausrüstung für mich dazu.“ Nur wie wird es jetzt weitergehen? „Das Pferd ist stumm“, sagt Julia Mestern. „Es braucht unsere Stimme.“

Dieser Beitrag ist erstmals in der November-Ausgabe 2023 der Reiter Revue erschienen.